Es lebte einmal ein Nashorn im Hohen Norden an einer eisigen Felsenküste. Wie Steinleichen ragten harte Buckel aus dem Sand. Und das Nashorn rannte blind vor Wut zwischen den Felsen herum und wusste nicht, welch trauriges Schicksal es in den kalten Norden verschlagen hatte. Die Haut war ihm rau und undurchdringbar geworden von ungezählten Kämpfen mit den Felsen. Kam der Frühling, und trieben die ersten grünen Spitzen aus dem kargen Boden, trampelte das Nashorn erbarmungslos über die Keime. Einmal aber, der Schnee war wieder geschmolzen, streckte sich eine kleine, dreiblättrige, violette Blüte wie eine Seidenhand ins Sonnenlicht. Da kam das Nashorn und zertrat den kleinen Stern. Am anderen Morgen jedoch wuchs die Blüte an derselben Stelle und war sogar etwas größer geworden. Das Nashorn wälzte sich erbost über die Blüte. Doch am nächsten Morgen stand sie wieder da. Sooft das Nashorn die Blüte zerstörte, trieb sie bis zum nächsten Morgen wieder aus, jedes Mal ein Stück größer. „Warum stirbst du nicht, du elender Farbenfleck!“, brüllte das Nashorn. „Die Erde. Die Erde.“, lispelten die Blütenblätter. Schon hatte das Nashorn die handgroßen Blätter mit seinem Horn durchbohrt und in die Luft geworfen. Danach wühlte es die Erde auf und zerstampfte jede auch noch so kleine Wurzel, die es finden konnte. Am nächsten Morgen blühte der violette Stern größer und schöner als zuvor. Das Nashorn wälzte einen Stein über die Stelle. Die Blüte drang seitlich durch und wuchs über den Stein hinaus. „Warum stirbst du nicht?“, knirschte das Nashorn voll Hass. „Die Sonne. Die Sonne.“, strahlte die Blüte. Das Nashorn zerfetzte die seidigen Blätter und stellte sich über den Platz, sodass sein dicker Schatten keinen Sonnenstrahl bis zur Erde ließ. Trotzig und wütend stand es so den ganzen Tag. Doch am nächsten Morgen spannte sich der Blütenkelch wie ein kleiner Strauch. Schäumend zertrat das Nashorn das Gewächs und legte sich nun auch die Nacht über auf die Stelle. Am anderen Morgen aber schwebte das Nashorn in der Luft, getragen von einer riesigen, hauchzarten violetten Blüte, die durchsichtig erschien und doch nicht zu zerreißen war. „Warum stirbst du nicht?“, flüsterte das Nashorn kleinlaut. „Die Liebe. Die Liebe.“, tönte eine weiche Stimme, und die Blütenblätter legten sich um das Nashorn. Kleine Bäche von Tauwasser benetzten seine harte Haut, bis sie weich und feucht geworden war.
Dieses Märchen findet sich mit 12 anderen in einem pdf Book, das ab Mai 2020 erhältlich ist.
„Herr Franz hört die Dinge lachen. Die schönsten Märchen von Frederik Mellak aus 25 Jahren“
Preis: 18 €
Umfang des pdf Books: 36 A 4 Seiten
Datengröße: 5 MB
Bestellung per E-Mail an: frederik.mellak@aon.at